Kapitel 9: Die Familie danach

Unsere Frauensleute haben bestimmte Ratschläge gegeben, welche Haltung eine Frau ihrem Mann gegenüber einnehmen soll, der auf dem Weg der Genesung ist. Vielleicht haben sie dabei den Eindruck erweckt, daß man ihn in Watte packen und auf ein Podest stellen muß. Eine erfolgreiche Genesung [readjustment - Wiederherstellung] bedeutet jedoch das Gegenteil. Alle Mitglieder der Familie sollten einander auf der gemeinsamen Grundlage von Toleranz, Verständnis und Liebe begegnen. Das beinhaltet einen Prozeß der Gesundschrumpfung [der Eigeninteressen]. Der Alkoholiker, seine Frau, seine Kinder, seine Verwandten, jeder hat wahrscheinlich festgefügte Vorstellungen [fixed ideas] über die Rollenverteilung innerhalb der Familie. Jeder ist daran interessiert, daß seine Wünsche respektiert werden. Je mehr Zugeständnisse ein Familienmitglied von den anderen fordert, um so verärgerter reagieren diese. Das bringt Mißklang und Verdruß.

Und warum? Liegt es nicht daran, daß jeder die führende Rolle spielen will? Versucht nicht jeder, das Familiendrama entsprechend seinen Vorlieben zu inszenieren? Versucht er nicht unbewußt, aus dem Familienleben mehr herauszuholen, als er bereit ist einzubringen?

Mit dem Trinken aufzuhören ist nur der erste Schritt aus einer unnormalen, spannungsgeladenen Situation heraus. Ein Arzt hat das einmal so ausgedrückt: "Die Jahre des Lebens mit einem Alkoholiker machen mit ziemlicher Sicherheit jede Ehefrau und jedes Kind neurotisch. Bis zu einem gewissen Grade ist deshalb die ganze Familie krank [nicht nur der Alkoholiker]." Beim Aufbruch in ihr neues Leben muß der Familie klar sein, daß sie nicht nur schönes Wetter haben wird. Jeder wird sich mal Blasen laufen und hinterherhinken. Sie werden an verführerische Abkürzungen und abwärts führende Seitenpfade kommen, die sie vielleicht einschlagen und sich dabei verirren.

Angenommen, wir nennen euch einige der Hindernisse, auf die eine Familie stoßen wird, angenommen, wir verraten euch, wie man vermeidet, in diese Fallen zu tappen - dann wird es sogar möglich, aus dem Mist Kompost zu machen, so daß für andere etwas Gutes, Nützliches dabei herauskommt [even converted to good use for others]. Die Familie eines Alkoholikers sehnt sich nach der Rückkehr von Freude und Geborgenheit [happiness and security]. Sie erinnern sich an die Zeit, als Vater noch liebenswert romantisch, bedachtsam, rücksichtsvoll und erfolgreich war. Das heutige Leben wird an früheren Jahren gemessen, und wenn es schlechter ausfällt, wird die Familie möglicherweise unzufrieden sein.

Das Vertrauen der Familie in den Vater steigt schnell. Sie glaubt, daß die guten, alten Zeiten bald wiederkommen. Manchmal verlangt sie sogar, daß der Vater sie augenblicklich zurückbringen soll. Sie meint, daß Gott ihr die Begleichung dieser längst überfälligen Rechnung schuldet. Aber der Herr des Hauses hat Jahre damit verbracht, Geschäft, Liebe, Freundschaft und Gesundheit kaputtzumachen - das alles ist nun ruiniert oder beschädigt. Es wird einige Zeit dauern, um die Trümmer zu beseitigen. Wenn auch die alten Gebäude letztlich durch neue, schönere ersetzt werden, so geht das nicht von heute auf morgen, es wird Jahre dauern.

Vater weiß, daß er Vorwürfe verdient. Er wird Jahre harter Arbeit brauchen, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Aber man sollte ihm deshalb keine Vorhaltungen machen. Vielleicht wird er nie mehr viel Geld haben. Aber die kluge Familie bewundert ihn mehr für das, was er zu sein versucht, als für das, was er erwerben will.

Hin und wieder wird die Familie von der Vergangenheit eingeholt. Die Trinker-Karriere fast jeden Alkoholikers ist gekennzeichnet durch lächerliche, demütigende, beschämende oder tragische Eskapaden. Die erste Reaktion [first impulse] wird sein, diese Leichen im Keller zu verstecken und die Tür zu verriegeln. Die Familie ist von der Idee besessen, daß künftiges Glück nur erreicht werden kann, indem man Vergangenes einfach vergißt. Diese Sichtweise ist ziemlich ichbezogen [self-centered] und steht in direktem Widerspruch zu unserer neuen Lebensweise.

Henry Ford hat einst die kluge Bemerkung gemacht, daß Lebenserfahrung höchst wertvoll ist. Das entspricht nur dann der Wahrheit, wenn man bereit ist, die Vergangenheit in ein Guthaben umzumünzen. Wir wachsen an unserer Bereitschaft, Fehler zu erkennen, zu berichtigen und aus ihnen Aktivposten zu machen. So wird die Vergangenheit des Alkoholikers zur wichtigsten Kapitalanlage für die Familie - oft bleibt es die einzige.

Die schmerzliche Vergangenheit kann von unermeßlichem Wert sein für andere Familien, die immer noch mit ihren Problemen ringen. Wir sind der Meinung, daß jede Familie, die von der Last befreit worden ist, denen etwas schuldet, die noch nicht soweit sind. Und wenn es die Umstände erfordern, sollte jedes Familienmitglied, das Gott gefunden hat, nur zu bereit sein, frühere Fehler - auch sehr schmerzhafte - aus der Versenkung hervorzuholen. Anderen, die noch leiden, zu zeigen, wie uns der Sieg gegeben wurde, ist doch gerade das, was das Leben jetzt für uns lebenswert macht. Klammere dich an den Gedanken, daß deine dunkle Vergangenheit dein wertvollster Besitz ist, solange du in Gottes Händen bleibst. Sie ist für andere der Schlüssel zum Leben und zum Glück. Damit kannst du Tod und Elend von ihnen abwenden.

Man kann sich allerdings in den Missetaten der Vergangenheit auch regelrecht suhlen, sie hegen und pflegen, bis sie zu einer echten Qual werden. [Das gilt für jene, die damit prahlen, was für schlechte Menschen sie einst waren, genauso wie für die, die Liebe damit einkaufen wollen, indem sie immer wieder zu Markte tragen, unter was für schlechten Menschen sie zu leiden haben oder hatten!] Dann gibt es Fälle, in denen Alkoholiker oder ihre Frauen Liebesabenteuer hatten. Im ersten Überschwang ihrer spirituellen Erfahrung [spiritual experience] baten sie einander um Verzeihung und rückten enger zusammen. Das Wunder einer Versöhnung lag auf der Hand. Später, durch dies oder jenes provoziert, grub der seinerzeit Betrogene die alte Affäre wieder aus und machte dem anderen im Zorn mit diesem Müll übelste Vorwürfe. Einige von uns hatten derartige Wachstumsschmerzen. Das tat sehr weh. Die Ehepartner waren manchmal gezwungen, sich eine Zeitlang zu trennen, bis sie die neue Perspektive und den Sieg über ihren verletzten Stolz wiedergewinnen konnten. In den meisten Fällen überlebte der Alkoholiker diese schwere Prüfung ohne Rückfall, aber nicht immer. Unsere Regel lautet daher, daß vergangene Ereignisse nicht diskutiert werden, außer wenn es einem wirklich guten und nützlichen Zweck dient.

Wir Familien von Alkoholiker Anonymus haben nur wenige Geheimnisse [voreinander]. Jeder weiß alles über die anderen. Das ist ein Umstand, der im normalen Leben [ordinary life] unsagbares Leid produzieren würde. Skandalöser Klatsch, Gelächter auf Kosten anderer und eine Neigung, Vorteile aus dem intimen Wissen über andere zu ziehen, würden die Folge sein. Unter uns passiert das kaum.

Wir sprechen häufig über einander, aber fast ausnahmslos gezügelt durch den Geist [spirit] von Liebe und Toleranz. Wir besprechen die Unzulänglichkeiten [shortcomings - Charakterfehler] anderer miteinander in der Hoffnung, dabei auf eine neue hilfreiche Idee zu stoßen, so daß bei dem Gespräch etwas herauskommt. Spötter mögen sagen, wir seien nur deshalb so gut, weil wir müßten.

Eine weitere Regel, die wir sorgfältig beachteten, ist, daß wir nicht auf intime Erlebnisse anderer Personen Bezug nehmen [do not relate intimate experiences of another person], außer wenn wir uns ihrer Zustimmung sicher sind. [Das ist so im Gespräch mit der betreffenden Person unter vier Augen, sicher erst recht, wenn andere anwesend sind oder gar Dritten gegenüber.] Wir finden es besser, möglichst bei unseren eigenen Geschichten zu bleiben. Ein Mensch mag sich selbst kritisieren oder über sich selbst lachen, und das wird positiv auf andere wirken. Kritik oder Spott von anderen bewirken oft das Gegenteil. Familienangehörige sollten sorgfältig auf solche Dinge achten. Denn eine unvorsichtige und unbedachte Bemerkung - und der Teufel ist wieder los. Wir Alkoholiker sind überempfindlich. Manche von uns brauchen lange, um über dieses schwierige Handicap hinauszuwachsen.

Die meisten Alkoholiker sind schnell zu begeistern. Sie fallen von einem Extrem ins andere. Am Anfang der Genesung schlagen sie in der Regel einen von zwei Wegen ein. Entweder stürzen sie sich kopfüber in ihren Beruf, um wieder auf die Füße zu kommen, oder sie sind von ihrem neuen Leben so gefesselt, daß sie kaum noch an etwas anderes denken und kaum noch von etwas anderem reden. In beiden Fällen ruft das ernstliche Probleme im Familienleben hervor. Wir können ein Lied davon singen.

Wir sagten bereits, daß es gefährlich ist, wenn er sich Hals über Kopf in die Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme stürzt. Davon wird auch die Familie berührt: zuerst angenehm, weil sie merkt, daß sich die finanziellen Schwierigkeiten langsam lösen; dann weniger angenehm, weil sie sich vernachlässigt fühlt. Vater ist tagsüber ganz in Anspruch genommen und abends müde. Er zeigt wenig Interesse an den Kindern und reagiert ärgerlich, wenn man ihm deshalb Vorwürfe macht. Wenn er nicht gerade gereizt ist, wirkt er träge und langweilig und überhaupt nicht fröhlich oder liebevoll, wie ihn die Familie haben möchte. Seine Frau bemängelt seine Unaufmerksamkeit, und alle sind enttäuscht und lassen es ihn spüren. Durch solche Vorhaltungen wird eine Barriere gebaut. Dabei macht er doch jede Anstrengung, um die verlorene Zeit einzuholen. Er versucht verzweifelt, Wohlstand und Ruf wiederherzustellen, und tut damit seiner Meinung nach sein Bestes.

Mutter und Kinder denken da oft ganz anders. Vernachlässigt und schlecht behandelt in der Vergangenheit, meinen sie, daß der Vater ihnen mehr schuldet, als sie bekommen. Sie möchten, daß er mehr Aufhebens um sie macht. Sie erwarten von ihm, daß er ihnen das Leben bietet, das sie hatten, bevor er soviel getrunken hat. Er soll auch Reue zeigen für das, was er ihnen angetan hat. Aber unaufgefordert kommt nichts von ihm. Die Verstimmung wächst. Er wird immer unzugänglicher [less communicative]. Oft geht er wegen Kleinigkeiten in die Luft. Der Familie ist das ein Rätsel. Sie tadelt ihn, weil er ihrer Ansicht nach sein spirituelles Programm vernachlässigt.

So etwas muß sofort gestoppt werden. Beide Seiten, der Vater und die übrige Familie, sind im Unrecht, obwohl ihre Anliegen gerechtfertigt erscheinen. Es nützt wenig, zu argumentieren, wer, wie, wo und warum - das macht die Sache nur noch schlimmer. Die Familie muß sich darüber klar werden, daß der Vater zwar erstaunliche Fortschritte macht, aber immer noch ein kranker Mann ist. Die Angehörigen sollten Gott danken, daß er trocken und dieser Welt wiedergegeben ist. Sie sollten seine Fortschritte loben. Sie sollten sich ins Bewußtsein rufen, daß durch sein Trinken viel kaputt ging, was nicht so schnell repariert werden kann. Wenn sie dafür ein Gespür entwickeln, werden sie auch seine zeitweilige Verschrobenheit, seine Niedergeschlagenheit oder seine Gleichgültigkeit nicht so ernst nehmen. Sie werden verschwinden, wenn Toleranz, Liebe und spirituelles Verständnis da sind.

Das Familienoberhaupt sollte sich daran erinnern, daß hauptsächlich er dafür verantwortlich zu machen ist, was seinem Heim widerfahren ist. Er kann dieses Konto vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr ausgleichen. Aber er muß die Gefahr erkennen, die darin liegt, daß er sich zu sehr auf finanziellen Erfolg konzentriert. Obwohl viele von uns sich im Laufe der Zeit wirtschaftlich erholen, mußten wir erkennen, daß Geld nicht an erster Stelle stehen darf. Für uns war materieller Wohlstand immer die Folge spirituellen Fortschritts, niemals umgekehrt.

Weil das Familienleben mehr als alles andere gelitten hat, ist es angezeigt, daß der Vater sich hier besondere Mühe gibt. Er wird nicht weit kommen, wenn er sich noch nicht mal unter dem eigenen Dach selbstlos und liebevoll zeigt. Wir wissen, daß es schwierige Ehefrauen und Angehörige gibt. Der Mann, der dabei ist, seinen Alkoholismus zu überwinden, sollte jedoch nicht vergessen, daß nicht er allein der Kranke ist, der der Fürsorge bedarf. Die Angehörigen sind auch Kranke, und er hat viel dazu beigetragen, daß es noch schlimmer mit ihnen wurde.

Wenn jedes Mitglied einer Familie, in der noch solche Spannungen bestehen, eigene Fehler einsieht und sie anderen gegenüber zugibt, ist die Grundlage für eine hilfreiche Aussprache gegeben. Diese Familiengespräche werden dann konstruktiv sein, wenn sie ohne hitzige Argumente, ohne Selbstmitleid, ohne sich selbst rechtfertigende Verteidigungsreden oder übelnehmerische Kritik geführt werden. Nach und nach werden Mutter und Kinder einsehen, daß sie zuviel verlangen, und Vater wird erkennen, daß er zuwenig gibt. "Geben ist seliger, denn nehmen" wird das Leitmotiv werden.

Nehmen wir mal an, daß der Vater am Tiefpunkt [outset] eine aufrüttelnde spirituelle Erfahrung gemacht hat. Über Nacht ist er ein anderer Mensch geworden. Er wird von Religion begeistert sein. Nichts anderes interessiert ihn mehr. Sobald es zur Selbstverständlichkeit geworden ist, daß er nicht mehr trinkt, wird die Familie zuerst mit Besorgnis, später mit Entrüstung auf ihren seltsamen, neuen Vater schauen. Morgens, mittags und abends dreht sich das Gespräch nur noch um spirituelle Dinge. Vielleicht verlangt er sogar, daß auch die Familie Gott im Schnellverfahren findet. Oder er zeigt der Familie gegenüber eine erstaunliche Gleichgültigkeit und meint, er sei erhaben über alle weltlichen Dinge. Auch mag es sein, daß er seiner Frau, die ihr Leben lang gläubig war, vorwirft, sie hätte keine Ahnung davon, worum es geht, und sie solle zusehen, wie sie zu seiner Art von Spiritualität komme, solange es noch Zeit sei.

Wenn der Vater diesen Weg einschlägt, kann es sein, daß die Familie widerwillig reagiert. Sie ist eifersüchtig auf einen Gott, der ihnen die Zuneigung des Vaters stiehlt. Obwohl sie dankbar ist, daß er nicht mehr trinkt, gefällt ihnen der Gedanke nicht, daß Gott dieses Wunder vollbracht hat und nicht sie. Oft vergessen sie, daß menschliche Hilfe den Vater nicht mehr erreichen konnte. Sie können nicht begreifen, warum ihre Liebe und Zuneigung ihm nicht helfen konnte. Sie sagen, Vater sei gar nicht so fromm, wie er tut. Wenn er die Fehler der Vergangenheit wirklich gutmachen will, warum kümmert er sich um jeden in der Welt, nur nicht um seine Familie? Was soll sein Gerede, daß Gott sich ihrer annehmen werde? Sie haben den Verdacht, daß Vater ein bißchen bekloppt ist!

So durcheinander, wie Sie glauben, ist er gar nicht. Viele von uns hatten die gleiche Hochstimmung. Wir haben uns spiritueller Verzückung hingegeben. Es ging uns wie einem ausgehungerten Goldgräber, der nach seinem letzten Bissen Brot den Gürtel noch enger geschnallt hatte und dann auf eine Goldader stieß. Die Freude darüber, daß lebenslanger Mißerfolg nun ein Ende hatte, kannte keine Grenzen. Der Familienvater sieht, daß er noch etwas viel Besseres gefunden hat als Gold. Eine Zeitlang mag er versuchen, den Schatz ganz für sich zu behalten. Vielleicht sieht er nicht sofort, daß er nur die Oberfläche einer unendlichen Goldader angekratzt hat, die jedoch nur dann Ertrag bringt, wenn er sein Leben lang weitergräbt und alles, was er findet, weiterschenkt.

Wenn die Familie mitzieht, wird der Vater bald merken, daß er unter verzerrten Wertvorstellungen leidet. Er wird einsehen, daß sein spirituelles Wachstum [spiritual growth] einseitig ist. Für einen Durchschnittsmenschen wie ihn ist ein spirituell orientiertes Leben, das nicht auch die Verpflichtungen gegenüber seiner Familie mit einbeziehen kann, letztlich gar nicht so perfekt, wie er vielleicht meint. Wenn die Familie erkennt, daß das derzeitige Benehmen des Vaters nur eine Entwicklungsphase ist, wird alles gut werden. Inmitten einer verständnisvollen, einfühlsamen Familie wird Vater schnell aus den Kinderschuhen seiner spirituellen Entwicklung herauswachsen.

Sollte die Familie ihn jedoch verurteilen und kritisieren, könnte das Gegenteil eintreten. Vater könnte das Gefühl haben, durch sein Trinken jahrelang bei jeder Meinungsverschiedenheit den kürzeren gezogen zu haben. Jetzt aber - so denkt er - sei er mit Gott an seiner Seite der Überlegene. Falls die Familie weiter kritisiert, könnte sich dieser Trugschluß des Vaters noch mehr verhärten. Anstatt die Familie zu behandeln, wie er sollte, zieht er sich weiter in sich zurück. Er meint, es sei spirituell gerechtfertigt, so zu handeln.

Obwohl die Familie mit Vaters spirituellen Betätigungen nicht ganz einverstanden sein mag, sollte sie ihm ruhig die Führung [leadership] überlassen. Selbst wenn er seine Familie bis zu einem gewissen Grad vernachlässigt und ihr gegenüber teilweise verantwortungslos handelt, sollte man ihn trotzdem anderen Alkoholikern helfen lassen, soviel er mag. In der ersten Zeit seiner Genesung festigt das seine Nüchternheit mehr als alles andere. Obwohl einige seiner Handlungen auf alarmierende Weise inakzeptabel sind, glauben wir dennoch, daß dieser Vater auf einem festeren Fundament steht als der andere Mann, der Geschäft bzw. beruflichen Erfolg wichtiger nahm als seine spirituelle Entwicklung. Er ist deshalb weniger gefährdet, mit dem Trinken wieder anzufangen. Und alles, was er macht, ist besser als ein Rückfall.

Diejenigen von uns, die viel Zeit in einer spirituell angehauchten Scheinwelt verbracht haben, merkten schließlich, daß das kindisch war. Diese Traumwelt ist durch viel Sinn für das Zweckmäßige ersetzt worden, begleitet von einem wachsenden Bewußtsein der Kraft Gottes in unserem Leben. Wir glauben inzwischen fest daran, daß Gott unsere Gedanken recht nah' bei sich im Himmel haben möchte, daß wir aber gleichzeitig mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen sollen. Dort stehen unsere Weggefährten, und dort muß auch unsere Arbeit getan werden. Das sind für uns die Realitäten. Für uns besteht keinerlei Widerspruch zwischen einer machtvollen, spirituellen Erfahrung und einem gesunden, glücklichen und nützlichen Leben.

Ein weiterer Vorschlag: Ob die Familie spirituelle Überzeugungen hat oder nicht, sie tut gut daran, sich die Prinzipien einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, nach denen der Alkoholiker zu leben versucht. Sie wird kaum umhin können, diesen einfachen Grundsätzen zuzustimmen, auch wenn das Familienoberhaupt sich noch etwas schwer tut, sie zu praktizieren. Nichts wird einem Mann, der auf spirituelle Nebengleise geraten ist, mehr helfen als eine Ehefrau, die dasselbe spirituelle Programm für sich akzeptiert, und noch dazu besseren, praktischen Gebrauch davon macht [als er].

Es wird weitere, tiefgreifende Änderungen in der Familie geben. Der Alkohol hat den Vater für viele Jahre so untüchtig gemacht, daß die Mutter das Oberhaupt der Familie wurde. Tapfer übernahm sie diese Verpflichtungen. Die Umstände zwangen sie oft, Vater wie ein krankes, widerspenstiges Kind zu behandeln. Selbst wenn er mal sein Recht behaupten wollte, so gelang ihm das nicht, seine Trinkerei setzte ihn ständig ins Unrecht. Mutter plante alles und gab die Anweisungen [directions]. Wenn er gerade trocken war, gehorchte der Vater für gewöhnlich. So gewöhnte sich Mutter ohne eigenes Zutun daran, daß sie in der Familie die Hosen anhat. Doch Vater, nun zu neuem Leben erwacht, fängt plötzlich an, sich selbst zu behaupten. Das bringt Ärger, der vermieden werden kann, wenn jeder beim anderen diese Tendenzen achtet und man zu einer freundlichen Übereinkunft gelangt.

Das Trinken isoliert die meisten Familien von der Außenwelt. Sie hatte den Vater die meiste Zeit über zu ertragen. Er hatte alle normalen gesellschaftlichen Aktivitäten über Jahre hinweg beiseitegelassen - Vereine, Bürgerpflichten, Sport. Wenn er nun wieder an solchen Dingen teilnimmt, mag ein Gefühl der Eifersucht aufkommen. Die Familie glaubt, ein Vorrecht an ihrem Vater zu haben, so daß für Außenstehende nichts übrigbleibt. Mutter und Kinder verlangen, daß er zu Hause bleibt, um Versäumtes gutzumachen. Besser wäre es, die Angehörigen suchten sich neue und eigene Aktivitäten.

Ganz am Anfang soll sich das Ehepaar klar werden, daß jeder hier und da zurückstecken muß, wenn die Familie eine wirksame Rolle im neuen Leben spielen soll. Vater wird notwendigerweise viel Zeit mit anderen Alkoholikern verbringen, aber diese Aktivität sollte durch andere ausbalanciert werden. Es wird neue Bekanntschaften mit Menschen geben, die nichts über Alkoholismus wissen. Deren Bedürfnissen sollte Rechnung getragen werden. Die Belange der Gemeinde können Aufmerksamkeit verlangen. Obwohl die Familie bisher keine religiösen Bindungen hatte, kann der Wunsch wach werden, solche Kontakte zu suchen oder Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu werden.

Gerade den Alkoholikern, die früher religiöse Menschen verspottet haben, wird manchmal durch solche Kontakte geholfen. Nunmehr besessen von seiner spirituellen Erfahrung [statt besessen von Spirituosen], wird der Alkoholiker mit diesen Leuten viel gemeinsam haben, wenn er auch in vielen Dingen anderer Meinung ist. Wenn er über religiöse Fragen nicht streitet und nicht vergißt, daß Menschen Gott auf viele Arten finden, wird er dort neue Freunde gewinnen. Mit Sicherheit findet er so neue Wege zur Freude und Nützlichkeit. Er und seine Familie können eine Bereicherung in einer Kirchengemeinde sein. Vielleicht bringt der Alkoholiker manchem Priester, Pfarrer oder Rabbi - diesen Männern, die so sehr dem Wohl unserer gepeinigten Welt dienen - neuen Mut und neue Hoffnung. Das hier Gesagte ist nur als hilfreicher Vorschlag gemeint. Soweit es uns betrifft, sehen wir darin kein "Muß!". Als Gruppe, die an keine der Konfessionen organisatorisch gebunden ist, haben wir kein Interesse daran, für sie Mitglieder zu werben. Wir können nicht stellvertretend für andere Entschlüsse fassen. Jeder sollte sein eigenes Gewissen befragen.

Wir haben bis jetzt zu Ihnen über ernste, manchmal tragische Dinge gesprochen. Wir haben uns mit Alkoholismus in seiner schlimmsten Form beschäftigt. Aber wir sind kein trauriger Verein. Wenn Neue nicht den Spaß und die Freude in unserem Dasein sehen könnten, würden sie diese Lebensform nicht haben wollen. Wir bestehen absolut darauf, uns des Lebens zu freuen. Wir lassen uns weder zu zynischen Bemerkungen über den Zustand der Nation hinreißen noch tragen wir die Sorgen dieser Welt auf unseren Schultern. Wenn wir einen Menschen im Sumpf des Alkoholismus versinken sehen, leisten wir ihm erste Hilfe und stellen ihm alles zur Verfügung, was wir haben. Um seinetwillen erzählen und erleben wir in Erinnerung nochmals die Schrecken unserer Vergangenheit. Diejenigen unter uns, die versucht haben, sich die gesamten Lasten und Sorgen anderer aufzuladen, haben herausgefunden, daß wir uns damit schnell überfordern.

Wir glauben, daß Lachen und Fröhlichsein nützlich sind. Außenstehende sind manchmal schockiert, wenn wir angesichts der Schilderung einer offensichtlich tragischen Erfahrung vergangener Tage in fröhliches Gelächter ausbrechen. Aber warum sollten wir nicht lachen? Wir sind Gewinner, und uns wurde die Kraft gegeben, anderen zu helfen.

Jeder weiß, daß Menschen mit schlechter Gesundheit und diejenigen, die sich selten amüsieren [play], nicht viel lachen. Also sollen sich alle Familien gemeinsam oder jeder für sich amüsieren [play], soweit es ihre Verhältnisse zulassen. Wir sind sicher, Gott will, daß wir glücklich, fröhlich und frei sind [Hier steht der inzwischen berühmt gewordene Slogan: Happy, joyous and free!]. Wir können uns nicht dem Glauben verschreiben, dieses Leben sei ein Jammertal, obwohl es einmal genau das für viele von uns war. Aber es ist klar, daß unser Elend hausgemacht war. Gott hat es nicht verursacht. Vermeide es also, leichtfertig oder vorsätzlich Leiden zu schaffen. Wenn aber Schwierigkeiten kommen, dann nutze sie freudig als Möglichkeit, [durch die wunderbare Lösung der Probleme] Gottes Allmacht zu demonstrieren.

Nun zur Gesundheit: Ein Körper, der durch Alkohol schwer mitgenommen ist, erholt sich meist nicht über Nacht, genausowenig wie verdrehtes Denken und Depressionen augenblicklich verschwinden. Wir sind überzeugt, daß eine spirituelle Lebensweise ein höchst wirksames Mittel zur Wiederherstellung der Gesundheit ist. Wir, die wir von schwerem Trinken genesen sind, stellen wahre Wunder an geistiger Gesundheit dar. Aber wir haben auch bemerkenswerte Umwandlungen [transformations] auf körperlicher Ebene zu sehen bekommen. Kaum jemand aus unserem Kreis zeigt irgendwelche Anzeichen bleibender Schädigungen.

Doch das bedeutet nicht, daß wir menschliche Gesundheitsmaßnahmen mißachten. Gott hat diese Welt reichlich mit guten Ärzten, Psychologen und Heilpraktikern aller Art versorgt. Zögere nicht, dich mit deinen Gesundheitsproblemen an solche Menschen zu wenden. Die meisten von ihnen bringen sich voll ein, damit sich ihre Mitmenschen körperlicher und geistiger Gesundheit erfreuen können. Versuche daran zu denken, daß wir niemals einen guten Doktor oder Psychiater schmähen sollten, obgleich Gott unter uns Wunder gewirkt hat. Ihre Dienste sind bei der akuten Behandlung eines Neulings und auch bei der Nachbehandlung seines Falles oft unentbehrlich.

Ein Wort zu Sexualbeziehungen. Alkohol ist sexuell so stark anregend für manche Männer, daß sie es im Übermaß getrieben haben. Gelegentlich sind Paare erschreckt, wenn sie merken, daß der Mann zur Impotenz neigt, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hat. Wenn die Ursache dafür nicht verstanden wird, kann es zu einer Störung im Gefühlsleben kommen. Einige von uns mußten diese Erfahrung machen. Sie konnten aber nach einigen Monaten eine viel feinere und innigere Beziehung erleben als früher. Sollten jedoch die sexuellen Störungen nicht verschwinden, ist es ratsam, einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen. Normalerweise halten diese Schwierigkeiten nicht lange an.

Der Alkoholiker kann es schwierig finden, eine freundliche Beziehung zu seinen Kindern wiederherzustellen. Ihr junges Gemüt war für Eindrücke sehr empfänglich, während er trank. Ohne es auszusprechen hassen sie ihn vielleicht aus tiefstem Herzen für das, was er ihnen und ihrer Mutter angetan hat. Die armen Kinder werden oft von erbarmenswerter Härte und Zynismus beherrscht. Sie scheinen nicht vergeben und vergessen zu können. Das kann monatelang hängenbleiben, lange nachdem ihre Mutter Vaters neuen Weg zu leben und zu denken akzeptiert hat.

Der Vater sollte es sich besser sparen, sie zu kritisieren oder auf Fehler hinzuweisen, solange sie in dieser Denkweise befangen sind. Er sollte sie keinesfalls übereilt mit seiner neuen Lebensweise bedrängen. Mit der Zeit werden sie erkennen, daß er ein neuer Mensch geworden ist, und auf ihre eigene Weise werden sie es ihn wissen lassen. Wenn dies geschieht, kann er sie einladen, an der morgendlichen Meditation teilzunehmen. Dann sind sie auch fähig, ihren Part in den täglichen Diskussionen ohne Groll oder Befangenheit zu übernehmen. Von da an wird es rasche Fortschritte geben. Solches Sich- wieder-finden trägt oft wunderbare Früchte.

Ob die Familie auf spiritueller Basis durchs Leben geht oder nicht - das alkoholkranke Familienmitglied muß es. Die anderen müssen durch sein verwandeltes Leben überzeugt werden, und es darf nicht einmal der Schatten eines Zweifels zurückbleiben. Er muß seinen Weg gehen. Die meisten Familien, die mit einem Trinker gelebt haben, glauben nur noch dem, was sie sehen.

Hier ein einschlägiger Fall: Einer unserer Freunde ist ein starker Raucher und Kaffeetrinker. Ohne Zweifel übertrieb er maßlos. Seine Frau sah das, und in der Absicht zu helfen begann sie, ihm deshalb Vorhaltungen zu machen. Er gab zu, daß er bei diesen Dingen übertrieb, sagte aber offen, daß er nicht bereit sei, damit aufzuhören. Seine Frau ist eine jener Personen, die wirklich das Gefühl haben, daß diese Genußmittel etwas Sündhaftes an sich haben, also nörgelte sie an ihm herum, und ihre Intoleranz brachte ihn zur Raserei. Er betrank sich.

Natürlich war unser Freund im Irrtum - tödlichem Irrtum. So schmerzlich es war, er mußte es zugeben und seine spirituellen Zäune reparieren. Obwohl er inzwischen ein äußerst erfolgreiches Mitglied von Alkoholiker Anonymus ist, raucht er noch und trinkt Kaffee, aber weder seine Frau noch sonst irgend jemand hält über ihn Gericht. Sie sieht ein, daß es verkehrt von ihr war, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, wo doch seine schwereren Leiden so schnell geheilt worden waren.

Das Wichtigste zuerst! [First things first!] Wir haben zwei kleine Mottos, die darauf passen. Hier sind sie:

Leben und leben lassen. [Live and let live]

Nimm es leicht. [Easy does it]

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Stand: 27. Juni 1997