Kapitel 2: Es gibt eine Lösung

Wir von Alkoholiker Anonymus kennen einhundert Menschen, die einst genauso hoffnungslos waren wie Bill. Alle sind genesen. Sie haben das Trinkproblem gelöst.

Wir sind normale Bürger. Alle Schichten und viele Berufe sind bei uns ebenso vertreten wie politische, wirtschaftliche, soziale und religiöse Richtungen. Wir sind Menschen, die normalerweise keinen Umgang miteinander hätten. Jedoch besteht zwischen uns eine Kameradschaft, ein gegenseitiges Wohlwollen und Verständnis. Das ist unbeschreiblich schön. Wir sind wie die Passagiere eines Ozeanriesen nach der Rettung aus Seenot, wenn Verbrüderung, Lebensfreude und Gemeinschaftsgefühl das Schiff erfüllen, vom Maschinenraum bis zur Kommandobrücke. Im Gegensatz zu den Schiffspassagieren hört unsere Freude über das Entkommen aus der Katastrophe nicht auf, wenn wir nachher wieder unsere eigenen Wege gehen. Das Gefühl, gemeinsam eine Gefahr durchstanden zu haben, ist ein Teil der Kraft, die uns verbindet. Doch das allein würde uns nie so zusammengehalten haben, wie wir heute zusammenstehen.

Für jeden von uns ist es eine ungeheuerliche Tatsache, daß wir eine allgemein anwendbare Lösung [common solution] entdeckt haben. Wir haben einen Weg gefunden, über den wir uns absolut einig sind und auf dem wir uns zu Aktionen in Brüderlichkeit und Harmonie zusammentun können. Das ist die gute Nachricht, die dieses Buch den Menschen bringt, die (noch) unter Alkoholismus leiden.

Eine Krankheit dieser Art - und wir sind dazu gekommen zu glauben, daß es eine Krankheit ist - verwickelt unsere Angehörigen auf eine Art mit hinein, wie es keine andere menschliche Krankheit kann. Hat jemand Krebs, wird er von allen bemitleidet, keiner ist verärgert oder verletzt. Nicht so aber bei der Alkoholkrankheit, denn mit ihr geht die Vernichtung aller Dinge einher, die das Lebens wertvoll machen. Sie zieht alle mit herunter, deren Leben mit dem Leidenden verbunden ist. Sie bringt Mißverständnisse, tiefe Verärgerung, finanzielle Unsicherheit, angewiderte Freunde und verärgerte Arbeitgeber, ein zerrüttetes Leben für unschuldige Kinder, unglückliche Frauen und Eltern. Diese Liste läßt sich beliebig fortsetzen.

Wir hoffen, daß dieses Buch diejenigen informieren, instruieren und trösten wird, die betroffen sind oder sein könnten. Davon gibt es viele.

Hochqualifizierte Psychiater, die sich mit uns befaßt haben, (oft fruchtlos, wie wir fürchten) finden es fast unmöglich, einen Alkoholiker so aus der Reserve zu locken, daß seine Situation zur Diskussion steht. Seltsamerweise finden Ehefrauen, Eltern und nahe Freunde uns Alkoholiker sogar noch unzugänglicher als der Psychiater und der Arzt.

Aber der Ex-Alkoholiker, der diese Lösung gefunden hat und der mit bestimmten medizinischen Informationen gewappnet ist [späterer Zusatz: und mit Fakten über sich selbst], kann im allgemeinen das volle Vertrauen eines anderen Alkoholikers in wenigen Stunden gewinnen. Ehe es aber zu einem solchen gegenseitigen Verstehen kommt, ist nur wenig oder nichts zu erreichen.

Der Mensch, der den Annäherungsversuch macht, hatte die gleichen Schwierigkeiten, so daß er weiß, wovon er spricht. Aus der ganzen Haltung seines Gesprächspartners erkennt der Betroffene, daß das ein Mensch mit einer echten Antwort ist, der nicht die Einstellung: "Ich bin heiliger als du!" hat, sondern lediglich den aufrichtigen Wunsch, hilfreich zu sein. Es sind keine Gebühren zu entrichten, man wird nicht vor den Karren fremder Interessen gespannt, es wird niemandem schön getan, es müssen keine Moralpredigten ertragen werden. Das sind die Voraussetzungen, die wir für notwendig erachten. Nachdem wir so auf sie zugegangen sind, nehmen viele ihre Betten und laufen wieder.

Niemand von uns tut diese Arbeit professionell, noch meinen wir, daß ihre Wirksamkeit verstärkt würde, wenn wir das täten. Wir fühlen, daß die Beseitigung des Alkoholproblems nur ein Anfang ist. Eine viel wichtigere Demonstration der Anwendung unserer Prinzipien liegt erst noch vor uns, nämlich in unserem jeweiligen Zuhause, unserer Erwerbstätigkeit - in jeder Beziehung. Wir alle verbringen viel von unserer freien Zeit im Bemühen um andere Alkoholiker, was wir noch näher beschreiben werden. Einige sind in der glücklichen Lage, nahezu ihre gesamte Zeit dieser Arbeit zu widmen.

Wenn wir auf dem Weg bleiben, den wir beschritten haben, wird zweifellos viel Gutes erreicht; dennoch ist damit kaum mehr als die Oberfläche des Problems angekratzt. Diejenigen von uns, die in großen Städten leben, sind überwältigt bei dem Gedanken, daß in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft täglich Hunderte von Alkoholikern der Vergessenheit anheimfallen. Viele könnten genesen, wenn sie die Chance gehabt hätten, der wir uns erfreuen. Wie sollten wir nun bekanntmachen, was uns so frei gegeben wurde?

Wir haben daher beschlossen, anonym ein Buch zu veröffentlichen, in welchem wir das Problem so darstellen, wie wir es sehen. In diese Arbeit werden wir unsere gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse einbringen. Wir empfehlen damit ein brauchbares Programm für jeden, der von einem Trinkproblem betroffen ist [egal ob er nun am Saufen oder unter einem Säufer leidet].

Es ist notwendig, daß medizinische, psychiatrische, gesellschaftliche und religiöse Fragen diskutiert werden. Dabei sind wir uns bewußt, daß diese Themen von Natur aus oft strittig sind. Nichts würde uns mehr Freude bereiten, als ein Buch zu schreiben, das keinen Anlaß für Streit und Auseinandersetzungen gibt. Wir werden unser Bestes tun, dieses Ideal zu verwirklichen. Die meisten von uns spüren, daß echte Toleranz gegenüber Fehlern und Ansichten anderer Menschen und die Achtung vor ihren Meinungen eine Einstellung ist, die uns für andere nützlicher macht. Für uns Ex-Alkoholiker hängt das ganze Leben davon ab, daß wir beständig denken, wie wir anderen dazu verhelfen, ihren Nöten zu begegnen.

Sie werden sich sicher schon gefragt haben, warum wir alle vom Trinken so schwer krank wurden. Sie sind zweifellos neugierig, wie und warum wir - entgegen der Prognose von Experten - von einem hoffnungslosen, geistigen und körperlichen Zustand [condition of mind and body] genesen sind. Wenn du ein Alkoholiker bist und das Trinkproblem überwinden willst, wirst du schon die Frage gestellt haben: "Was habe ich zu tun?"

Es ist der Zweck dieses Buches, solche Fragen eingehend zu beantworten. Wir werden Ihnen erzählen, was wir getan haben. Bevor wir darauf im einzelnen zu sprechen kommen, wird es gut sein, einige Punkte zusammenzufassen, so wie wir sie sehen.

Wie oft hat man uns gesagt: "Ich kann Alkohol trinken oder stehen lassen. Warum kann er es nicht?" "Warum trinkst du nicht wie ein normaler Mensch oder läßt es ganz?" "Dieser Bursche kann mit Schnaps nicht umgehen."

"Warum versuchst du es nicht mit Bier oder Wein?" "Laß die Finger von harten Sachen!" "Er muß willensschwach sein." "Er könnte aufhören, wenn er nur wollte." "Sie ist so ein nettes Mädchen, ich könnte mir vorstellen, daß er ihretwegen aufhört." "Der Arzt hat ihm gesagt, wenn er je wieder trinken würde, wäre das sein Tod, trotzdem ist er schon wieder voll."

Das sind die üblichen Bemerkungen über Trinker, wie wir sie ständig hören. Hinter solchen Worten steht eine ganze Welt von Unwissenheit und Unverständnis. Solche Äußerungen passen auf Leute, deren Reaktionen von unseren sehr verschieden sind.

Normal trinkende Menschen haben kaum Schwierigkeiten, den Alkohol völlig aufzugeben, wenn sie einen guten Grund dafür haben. Sie können trinken oder es jederzeit lassen.

Dann gibt es noch den bestimmten Typ des harten Trinkers. Seine Trinkgewohnheit kann unter Umständen seine körperliche und geistige Gesundheit beeinträchtigen [impair him physically and mentally]. Dadurch kann er ein paar Jahre früher sterben. Schlechte Gesundheit, große Liebe, eine neue Umgebung oder ein strenger Arzt können ihn veranlassen, ganz aufzuhören oder nur noch mäßig zu trinken. Das kann mühsam und schwierig für ihn sein, vielleicht braucht er dafür sogar ärztliche Hilfe.

Wie aber ist es mit dem echten Alkoholiker? Er mag am Anfang mäßig trinken. Es kann ein schwerer Gewohnheitstrinker aus ihm werden - oder auch nicht. An irgendeinem Punkt seiner Trinkerlaufbahn jedoch fängt er an, jede Kontrolle über seinen Alkoholkonsum [Trinkmenge] zu verlieren, sobald er erst einmal zu trinken beginnt.

Das ist der Bursche, der Ihnen durch seinen Kontrollverlust Rätsel aufgibt. In seinem Rausch tut er absurde, unglaubliche und bisweilen tragische Dinge. Einen leichten Schwips hat er selten, meistens ist er mehr oder weniger sinnlos betrunken. Wenn er trinkt, ist er nicht mehr er selbst. Er mag einer der feinsten Kerle der Welt sein, doch wenn er nur einen Tag trinkt, wird er oft widerlich oder gemeingefährlich. Er hat die seltene Gabe, sich genau im falschen Moment zu betrinken, besonders dann, wenn eine wichtige Entscheidung getroffen oder eine Verabredung eingehalten werden muß. Er ist in vieler Hinsicht sehr einfühlsam und ausgeglichen, nur nicht, wenn es um Alkohol geht. In dieser Beziehung ist er unglaublich unehrlich und selbstsüchtig. Er besitzt oft besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Begabungen und hat eine vielversprechende Karriere vor sich. Er benutzt seine Gaben, um sich und seiner Familie eine vielversprechende Zukunft aufzubauen, die er dann durch eine sinnlose Serie von Besäufnissen wieder kaputt macht. Er geht so betrunken zu Bett, daß er normalerweise rund um die Uhr schlafen müßte. Aber bereits früh am nächsten Morgen sucht er wie wild nach der Flasche, die er die Nacht zuvor irgendwo versteckt hatte. Wenn er es sich leisten kann, hat er im ganzen Haus Alkohol-Depots angelegt, um sicher zu sein, daß ihm keiner seinen ganzen Vorrat wegnimmt, um ihn in den Ausguß zu schütten. Wenn sein Zustand schlimmer wird, fängt er an, starke Beruhigungsmittel zusammen mit Alkohol zu schlucken, um seine Nerven soweit zu beruhigen, daß er zur Arbeit gehen kann. Dann kommt der Tag, an dem er es so nicht mehr schafft und an dem er rund um die Uhr trinkt. Vielleicht geht er zu einem Arzt, der ihm Morphium oder irgendwelche anderen Beruhigungsmittel gibt, damit er langsam wieder zu sich finden kann. Von da an taucht er immer wieder in Krankenhäusern und Sanatorien auf.

Das ist keineswegs ein vollständiges Bild des echten Alkoholikers, denn unsere Verhaltensmuster sind sehr unterschiedlich. Im allgemeinen kann man aber nach dieser Beschreibung einen Alkoholiker erkennen.

Warum benimmt er sich so? Wenn hundertfache Erfahrung ihm gezeigt hat, daß ein einziger Schluck ein weiteres Debakel mit all den begleitenden Leiden und Erniedrigungen bedeutet, warum nimmt er diesen ersten Schluck trotzdem zu sich? Warum kann er nicht trocken bleiben? Was ist aus dem gesunden Menschenverstand und der Willenskraft geworden, die in anderen Dingen manchmal ja noch funktionieren?

Wahrscheinlich wird es auf diese Frage nie eine erschöpfende Antwort geben. Unter Psychiatern und Medizinern gehen die Meinungen darüber, warum ein Alkoholiker anders reagiert als normale Menschen, weit auseinander. Niemand weiß das genau. Wenn erst einmal ein bestimmter Punkt erreicht ist, kann nichts mehr für ihn getan werden. Wir können dieses Rätsel nicht lösen.

Wir wissen, daß der Alkoholiker oft genau wie andere Menschen reagiert, wenn er nicht trinkt - was er manchmal über Monate oder Jahre schafft. Wir wissen aber auch, daß in dem Augenblick, in dem er Alkohol in irgendeiner Form zu sich nimmt, in körperlicher und geistiger Hinsicht [in the bodily and mental sense] etwas geschieht, das es ihm praktisch unmöglich macht aufzuhören. Die Erfahrungen jedes Alkoholikers werden das zur Genüge bestätigen.

Diese Beobachtungen wären graue Theorie und überflüssig, wenn unser Freund nie wieder den ersten Schluck trinken würde, mit dem er diesen schrecklichen Kreislauf in Bewegung setzt. Deshalb sitzt das Hauptproblem des Alkoholikers in seinem Kopf und weniger in seinem Körper. Wenn Sie ihn fragen, warum er mit dem letzten Besäufnis angefangen hat, wird er Ihnen wahrscheinlich eines seiner hundert Alibis anbieten. Manchmal haben diese Entschuldigungen eine gewisse Glaubwürdigkeit, aber keine von ihnen hält, im Lichte der Verwüstung betrachtet, die das Besäufnis eines Alkoholikers anrichtet, wirklich stand. Diese Entschuldigungen klingen wie die Philosophie eines Mannes, der sich bei Kopfweh mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, um die Schmerzen nicht mehr spüren zu müssen. Wenn Sie einen Alkoholiker auf diese wackeligen Ausreden aufmerksam machen, wird er entweder alles ins Lächerliche ziehen, den Beleidigten spielen oder vom Thema ablenken.

Hin und wieder wird er Ihnen die Wahrheit sagen. So seltsam es auch klingen mag, die Wahrheit besteht darin, daß er genausowenig wie Sie weiß, warum er den ersten Schluck trank. Einige Trinker geben sich mit ihren selbstgestrickten Entschuldigungen eine Zeitlang zufrieden. Aber in ihrem Herzen herrscht Ratlosigkeit darüber, warum sie das tun. Sind sie erst einmal von dieser Krankheit gepackt, wissen sie weder ein noch aus. Sie sind von der fixen Idee besessen, das Spiel irgendwie, irgendwann doch noch gewinnen zu können. Oft aber ahnen sie schon, daß sie am Boden liegen und nur noch darauf warten, ausgezählt zu werden.

Wie wahr das ist, begreifen wenige. Irgendwie spüren ihre Familien und ihre Freunde, daß diese Trinker abnorm sind, aber jeder wartet voller Hoffnung auf den Tag, an dem der Leidende sich aus seiner Lethargie selbst herauszieht und seine Willenskraft einsetzt.

Die tragische Wahrheit ist, daß dieser glückliche Tag selten kommt, falls der Betroffene ein echter Alkoholiker ist. Er hat die Kontrolle verloren. Jeder Alkoholiker überschreitet irgendwann die Grenze und kommt in ein Stadium, wo auch der sehnlichste Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, absolut nichts mehr nützt. Diese tragische Situation ist in praktisch jedem Fall bereits eingetreten, ehe damit gerechnet wird.

Es ist eine Tatsache, daß die meisten Alkoholiker aus noch unbekannten Gründen die Kraft verloren haben, zu wählen, ob sie weitertrinken oder nicht. Unsere sogenannte Willenskraft existiert praktisch nicht mehr. Zu bestimmten Zeiten sind wir - egal, wie gut wir uns auch selbst durchschaut haben mögen - unfähig, uns die Erinnerung an Leiden und Demütigungen ausreichend stark ins Bewußtsein zurückzurufen, selbst wenn diese nur eine Woche oder einen Monat zurückliegen. Wir sind ohne Abwehrkraft gegen den ersten Schluck.

Die schier unausweichlichen Konsequenzen, die auch nur ein einziges Glas Bier nach sich zieht, kommen uns nicht in den Sinn, um uns abzuschrecken. Wenn solche Gedanken auftauchen, sind sie nebelhaft und werden nur zu gern von der fadenscheinigen Vorstellung verdrängt, daß wir uns diesmal so wie andere Leute im Griff haben werden. Der Selbsterhaltungstrieb, der uns schützt, und einen beispielsweise davon abhält, seine Hand auf den heißen Ofen zu legen, versagt hier vollständig.

Der Alkoholiker kann ganz cool zu sich sagen: "Diesmal werde ich mich nicht verbrennen - was soll's!" Vielleicht denkt er sich auch gar nichts dabei. Wie oft haben einige von uns auf die leichtsinnige Art angefangen zu trinken und nach dem dritten oder vierten Glas auf die Theke geklopft und zu sich selbst gesagt: "Mein Gott, wie konnte ich nur wieder anfangen?" Dieser Gedanke wird sofort wieder verdrängt durch: "Na gut, nach dem sechsten Glas werde ich aufhören." oder: "Was hat das überhaupt für einen Sinn?"

Wenn sich diese Denkweise in einem Menschen festsetzt, der zum Alkoholiker veranlagt ist, kann menschliche Hilfe bei ihm kaum noch etwas ausrichten. Wenn er dann nicht eingesperrt wird, geht er mit Sicherheit zugrunde oder wird permanent wahnsinnig [Korsakow-Syndrom]. Legionen von Alkoholikern haben uns im Laufe der Geschichte von diesen nackten und häßlichen Tatsachen überzeugt. Nur durch die Gnade Gottes, konnte es nun einhundert, noch weit mehr überzeugende Beispiele geben. [But for the grace of God, there would have been one hundred more convincing demonstrations.] So viele, die aufhören wollen, können es nicht, aber:

Es gibt eine Lösung.Fast keinem von uns gefiel die Selbsterforschung, die Einebnung seines Hochmuts und das Bekenntnis seiner Unzulänglichkeiten. Der [Genesungs-]Prozeß erfordert das zu seinem erfolgreichen Abschluß. Aber wir sahen, daß es in anderen wirkte- und mußten zum Glauben kommen - in der Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens, wie wir es bisher gelebt hatten. Wenn daher Menschen auf uns zugingen, in denen die Lösung des Problems lebendig war, blieb uns gar nichts weiter übrig, als dieses einfache Sortiment spirituellen Handwerkzeugs aufzuheben, das sie uns vor die Füße gelegt hatten. Wir haben ein (großes) Stück Himmel gefunden, und wir sind in eine "Vierte Dimension des Daseins" katapultiert worden, von der wir noch nicht einmal geträumt hatten.

Die großartige (Tat-)Sache ist eben die - und weniger wäre nichtig -, daß wir tiefe und wirkungsvolle spirituelle Erfahrungen gemacht haben, die unsere Einstellung gegenüber dem Leben, gegenüber unseren Mitmenschen und gegenüber Gottes Universum revolutionierten. Der zentrale Punkt in unserem jetzigen Leben ist die absolute Gewißheit, daß unser Schöpfer auf eine wunderbare Art den Weg zu unseren Herzen gefunden hat und in unser Leben eingetreten ist. Er hat für uns die Dinge vollendet, die wir nie selbst (aus eigener Kraft) hätten tun können.

Wenn du dir sicher bist, Alkoholiker zu sein, wie wir es waren, gibt es nach unserer Überzeugung für dich keine Kompromiß- Lösung mehr. Du befindest dich in einer Lage, wo es unmöglich wird, so weiterzuleben. Und wenn du bereits den "point of no return" überschritten hast, die Grenze zu dem Bereich, aus dem es mit menschlichen Hilfsmitteln keine Rückkehr mehr gibt, dann stehst du am Scheideweg. Du hast nur zwei Möglichkeiten: Die eine ist, daß du bis zum bitteren Ende gehst und bis dahin, so gut du kannst, die bewußte Wahrnehmung deiner unerträglichen Lage ausschaltest; die andere ist, daß du das findest, was wir gefunden haben.* Das kannst du, wenn du es ehrlich wünschst und bereit bist, dir die Mühe zu machen.

Ein amerikanischer Geschäftsmann - fähig, vernünftig und mit gutem Charakter - zog jahrelang von einem Sanatorium ins andere. Er hatte die bekanntesten amerikanischen Psychiater konsultiert. Dann war er nach Europa gegangen und hatte sich in die Behandlung eines bekannten Arztes [des Psychiaters C.G.Jung in Zürich] begeben. Obwohl Erfahrung den Geschäftsmann skeptisch gemacht hatte, beendete er seine Behandlung mit ungewöhnlicher Zuversicht. Sein körperlicher und geistiger Zustand [physical and mental condition] war außerordentlich gut. Überdies glaubte er, jetzt ein so gründliches Wissen über die inneren Vorgänge in seinem Denken [inner workings of his mind] zu haben und die darin verborgenen Quellen so gut zu kennen, daß er einen Rückfall für undenkbar hielt. Nichtsdestotrotz war er nach kurzer Zeit wieder betrunken. Noch tückischer war es, daß er sich selbst keine befriedigende Erklärung für seinen Rückfall geben konnte.

Also ging er wieder zu diesem Arzt zurück, den er bewunderte, und fragte ihn geradeheraus, warum er nicht gesund werden könne. Vor allen Dingen wünschte er sich, die Selbstkontrolle wiederzuerlangen. In bezug auf andere Probleme schien er recht vernünftig und ausgeglichen zu sein. Über den Alkohol jedoch hatte er keinerlei Kontrolle. Wie kam das?

Er bat den Arzt, ihm die ganze Wahrheit zu sagen und er bekam sie [zu hören]. Nach dem Urteil des Arztes war der Geschäftsmann ein absolut hoffnungsloser Fall. Er könne seine gesellschaftliche Stellung nie wieder erlangen. Und wenn er die Absicht habe, lange zu leben, müsse er sich entweder hinter Schloß und Riegel begeben oder einen Leibwächter engagieren. Das war die Meinung eines großen Arztes.

Doch dieser Mann lebt noch und ist ein freier Mensch. Weder braucht er einen Leibwächter, noch ist er eingesperrt. Er kann überall auf dieser Welt hingehen, wo andere freie Menschen hingehen, ohne ins Unglück zu laufen, vorausgesetzt, er ist bereit, eine bestimmte einfache Einstellung [attitude] aufrechtzuerhalten.

Einige unserer alkoholkranken Leser mögen der Ansicht sein, daß sie es ohne spirituelle Hilfe schaffen. Laßt uns den Fortgang der Unterhaltung erzählen, die unser Freund mit seinem Arzt hatte.

Der Arzt sagte ihm: "Sie haben die Denkweise [mind] eines chronischen Alkoholikers. Ich habe noch keinen einzigen genesen sehen, bei dem dieser Zustand des Denkens [state of mind] schon so weit fortgeschritten war wie bei Ihnen." Unser Freund hatte das Gefühl, als hätten sich die Tore der Hölle mit einem Knall hinter ihm geschlossen.

Er sagte zum Arzt: "Gibt es da keine Ausnahme?"

"Doch", antwortete der Arzt, "es gibt eine. Selbst in Fällen wie dem Ihren, hat es seit frühesten Zeiten Ausnahmen gegeben. Hie und da hatten Alkoholiker manchmal das, was man eine lebendige, spirituelle Erfahrung [vital spiritual experience] nennt. Für mich sind diese Erscheinungen ein Phänomen. Sie gehen ihrer Natur nach mit gewaltigen Gefühlsbewegungen und völliger Neuorientierung einher. Ideen, Gefühle und Haltungen, die einst die bestimmenden Kräfte im Leben dieser Menschen waren, werden plötzlich über Bord geworfen, und völlig neue Vorstellungen und Beweggründe treten bei ihnen in den Vordergrund. Tatsächlich habe ich versucht, in Ihnen etwas von solch einer emotionalen Neuorientierung auszulösen. Bei vielen sind die Methoden, die ich angewandt habe, erfolgreich, aber ich hatte nie Erfolg bei einem Alkoholiker Ihres Schlages."

Als unser Freund das gehört hatte, war er etwas erleichtert. Er überlegte sich, daß er immerhin ein gutes Mitglied der Kirche war. Die darauf gegründete Hoffnung zerstörte ihm der Arzt jedoch, indem er ihm sagte, daß seine religiösen Überzeugungen zwar gut seien, daß sie in seinem Fall aber nicht ausgereicht hätten, um bei ihm diese notwendige "vitale spirituelle Erfahrung" herbeizuführen.

Das war das schreckliche Dilemma, in dem sich unser Freund befand, als er jene "außergewöhnliche Erfahrung" hatte, die aus ihm, wie schon gesagt, einen freien Menschen machte.

Wir suchten nun unsererseits mit der Verzweiflung Ertrinkender denselben Ausweg. Was zuerst nur wie ein schwacher Strohhalm aussah, das erwies sich als liebende und starke Hand Gottes. Ein neues Leben wurde uns gegeben, oder - wenn Sie so wollen - ein Lebensentwurf, der wirklich funktioniert. [a design for living that really works] Der angesehene amerikanische Psychologe William James beschreibt in seinem Buch "Vielfalt religiöser Erfahrungen" eine Anzahl von Wegen, auf denen Menschen Gott entdeckt haben. Wir haben als Gruppe nicht die Absicht, irgend jemanden davon zu überzeugen, es gäbe nur einen einzigen Weg, auf dem Gott entdeckt werden könnte. Wenn das, was wir gelernt, gefühlt und gesehen haben, überhaupt eine Bedeutung hat, dann diese: Wir alle, gleich welcher Rasse, welchen Glaubens oder welcher Hautfarbe, sind Kinder eines lebendigen Schöpfers, und wir können zu ihm auf einfache und leicht verständliche Weise in Beziehung treten, wenn wir nur bereitwillig und ehrlich genug sind, es zu versuchen. Jene Menschen, die religiöse Bindungen haben, werden dabei nichts finden, was ihren Glauben oder ihre zeremonielle Religionsausübung stört. Darüber gibt es bei uns keine Meinungsverschiedenheiten.

Wir sind der Meinung, daß es uns als Gruppe nichts angeht, zu welcher Glaubensrichtung sich jeder einzelne zugehörig fühlt. Das sollte eine ganz persönliche Angelegenheit sein, die jeder für sich selbst im Hinblick auf seine früheren Bindungen oder nach seiner heutigen Wahl entscheidet. Nicht jeder von uns schließt sich einer Glaubensgemeinschaft an, aber die meisten neigen dazu.

Im folgenden Kapitel wird erklärt, was wir unter Alkoholismus verstehen. Danach wendet sich ein Kapitel an Agnostiker. Viele von denen, die sich einst zu den Agnostikern zählten, sind nun unter unseren Mitgliedern. Erstaunlicherweise zeigt es sich, daß solche Überzeugungen kein großes Hindernis für eine spirituelle Erfahrung sind.

Da gibt es ein paar persönliche Erfahrungsberichte. Danach werden klipp und klar Ratschläge [directions] gegeben, die zeigen, wie ein alkoholkranker Mensch genesen kann. Später folgen eine ganze Menge Lebensgeschichten von Alkoholikern.

In den persönlichen Berichten beschreibt jeder einzelne in seiner Sprache und aus seiner Sicht, wie er seine Verbindung zu Gott wiederentdeckte. Diese Geschichten ergeben einen Querschnitt unserer Gemeinschaft und lassen ganz klar erkennen, was sich im Leben jedes einzelnen ereignete. Wir hoffen, daß niemand an diesen offenherzigen Selbstbekenntnissen Anstoß nimmt. Unsere Hoffnung ist es, daß viele alkoholkranke Männer und Frauen, die in Not und Verzweiflung sind, diese Seiten in die Hand bekommen. Wir glauben, daß nur eine rückhaltlose Darstellung unserer selbst und unserer Probleme sie dazu bringen wird zu sagen: "Ja, ich bin auch einer von ihnen; das ist eine Sache, die ich auch haben muß."

[ Kapitel 1 <= | Inhaltsverzeichnis | => Kapitel 3 ]

Stand: 27. Juni 1997